Die Verarbeitung von Wolle geht auf Jahrtausende alte Traditionen zurück. In Spinnstuben wurden Geschichten, Lieder und Legenden von Generation zu Generation weitergetragen. Der Volksglauben sagt den Spinnerinnen nach, dass sie Flüche, Geheimnisse und Segenssprüche in ihre Garne einweben konnten.
Auch im Gerberhaus herrschte am kalten Abend des 9. November trotz Einhaltung der Corona-Hygienemaßnahmen eine gemütliche Stim-mung: bei einem Workshop erlernten die textilbegeisterten Spinnerin-nen und Spinner die älteste Form der Garnproduktion unter Zuhilfenahme von Werkzeugen. Die Leiterin der Städtischen Museen, Linda Obhof, leitete den Workshop fachmännisch an, zuvor erhielten die Teilnehmer*innen eine kurze Einführung in die Geschichte des Spinnens. Anschließend wurde die mittelalterliche Art des Handspinnens – mit einem Rocken und einer einfachen Spindel – praktisch erprobt.
In Europa ist die Nutzung von Handspindeln spätestens seit dem 6. vorchristlichen Jahrtausend durch archäologische Funde belegt (Achilleion/ Griechenland). Handspindeln setzen sich aus einem ursprünglich hölzernen Schaft in Stabform und einem aufgesteckten Spinnwirtel zusammen. Durch die manuell ausgelöste Rotationsbewegung dreht sich der Stab samt dem Wirtel als Gewicht weiter und verzwirnt dadurch die Fasern. Je nach Faser und angestrebter Stärke des zu verzwirnenden Garns kann der Wirtel aus unterschiedlichen Materialien und in unterschiedlicher Größe gefertigt sein. Die ältesten archäologischen Funde von Wirteln sind aus Ton gefertigt, später auch aus Knochen, Stein, Glas und Holz.
Die zum Spinnen vorbereitete und gekämmte Wolle wird z.B. in einen Gürtel geklemmt oder nach mittelalterlichem Vorbild an einem sogenannten Spinnrocken befestigt. Spinnrocken können in den Gürtel gesteckt werden oder durch einen Ständer oder Standfuß an Ort und Stelle gehalten werden. Mit einer Hand zieht man vorsichtig die Fasern aus dem Vlies, mit der anderen Hand wird die Spindel zum Drehen gebracht was zu einem Verzwirnen des Fadens sorgt.
Das Aufkommen der ersten Spinnräder revolutionierte im Spätmittelalter die Verarbeitung tierischer wie pflanzlicher Fasern, die Handspindel verlor in Folge an Bedeutung. Die Erfindung des Spinnrades ist wahrscheinlich in das Früh- bis Hochmittelalter im asiatischen oder indischen Raum zu verorten. Nach Europa gelangen die Räder jedoch erst über das östliche Mittelmeer im Verlauf des 12.–13. Jahrhunderts. Man unterscheidet zwischen dem handbetriebenen Spindelspinnrad und dem spätestens seit dem 17. Jh. fußangetriebene Flügelspinnrad. In seiner Frühphase war das Spinnrad wahrscheinlich nur in wenigen Haushalten präsent, demnach wurde auch weiterhin die Handspindel zur Garnproduktion verwendet. Bis heute geriet die Nutzung der Handspindeln nie ganz in Vergessenheit und wird seit den 1970er Jahren wiederentdeckt. Heute gibt es wieder Spinnstuben und Netzwerke über die sozialen Medien, in denen sich Spinn-Begeisterte aus der ganzen Welt austauschen.
Text und Foto: Stadtmuseum Bretten
Unterschrift Foto: Mit Geduld und mittelalterlichen Werkzeugen entstehen handgefertigte Wollgarne.
Veröffentlicht am 11.11.2021