Bevor die seriell gefertigte Konfektionsmode aufkam, waren die Schneider für die Versorgung der Bewohner in Stadt und Land für deren textile Ausstattung zuständig, die nicht umfänglich in Heimarbeit gefertigt wurde. Der Lehrberuf des Schneiders findet seinen Ursprung in der Entwicklung der Mode: Mit dem Aufblühen der Städte seit dem 12. Jahrhundert entwickelten sich auch andere Kleiderformen. Die Mode wurde nun immer körpernaher angepasst und erforderte Erfahrung im Umgang mit den verwendeten Textilien und der Anpassung an den künftigen Träger. Kleiderordnungen wurden notwendig, um die Träger in ihre ständischen Schranken zu weisen.
Die Schneider wurden schon früh in Zünften organisiert, die ihnen soziale Sicherheit boten und zugleich den Zugang zum Handwerk beschränkten und die Qualität der angebotenen Waren sicherten. Die Kunden brachten ihre Stoffe selbst mit, denn der Verkauf von Tuchen war den Tuchhändlern vorbehalten. Der Beruf des Schneiders hat sich durch das Aufkommen der Nähmaschine im frühen 19. Jahrhundert stark verändert. Aufträge konnten schneller angefertigt werden, Nähgesellen wurden durch schneller arbeitende Maschinen ersetzt. Besonders das Aufkommen der Konfektionsware, automatisierte Zuschnitt-Möglichkeiten und die Verlagerung vieler Betriebe ins Ausland haben dem Berufszweig stark zugesetzt.
Waren im 16. und 17. Jahrhundert in Bretten noch zahlreiche Weber, Tuchscherer und andere Handwerker aus dem Bereich der Textilwirtschaft ansässig, ist die Anzahl wohl seit dem Stadtbrand 1689 bis zur beginnenden Industrialisierung stark zurückgegangen. Bretten erlebte keinen Schub der Textilbranche durch neue Verarbeitungsverfahren, da hier keine stark verhaftete Tradition in diesem Segment ansässig war wie in anderen Städten. Dennoch gab es in Bretten neben Schneidern und Stoffhändlern stets einige Betriebe, die sich mit der Verarbeitung von Textilien oder der Produktion von Kleidung auf dem Markt hielten. Im Jahr 1924 waren im Amtsbezirk Bretten 36 Betriebe mit 10 oder mehr Mitarbeitern aus dem Bereich der Textilwirtschaft zu verzeichnen.
Seit 1938 bestand die auf Herrenhosen spezialisierte Textilfabrik Herbert Brunnert GmbH und Co. KG zunächst in der Alten Wilhelmstraße und seit 1988 mit 120 Beschäftigten in Gölshausen. Nachdem die Produktion kurz zuvor nach Portugal ausgelagert worden war, wurde 1989 – nach 51 Jahren Betrieb – die sog. „Hosenfabrik“ aufgelöst.
Neben der Firma Brunnert bestand seit 1952 in der Nähe des Alexanderplatzes die Firma Friedrich Wald Kleiderfabrik GmbH. Um diese Firma rankt sich eine besondere Geschichte: Im Jahr 1957 prangerte der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst der DDR die Ausbeutung der Arbeiter durch den westlichen Kapitalismus anhand der kleinen, in Bretten ansässigen Firma propagandistisch an. Das Bundesarchiv verfügt noch über eine Beschreibung aus alten Beständen des Bundesnachrichtendienstes:
„Friedrich Walds Textilhölle. Ein krasses Beispiel für die steigende Ausbeutung in Westdeutschland gibt die Kleiderfabrik Friedrich Wald, die vor 5 Jahren mit 15 Arbeitskräften in Bretten bei Karlsruhe mit der Fabrikation begann. Untertarifliche Bezahlung, Überstunden ohne Zuschläge und Staatskredite – man nennt es im Westen „Unternehmerinitiative“ – ermöglichen es dem Bekleidungskönig von Bretten in kurzer Zeit zu einem bedeutenden Unternehmer seiner Ursache zu werden. Heute arbeiten im Hauptbetrieb Bretten in den Zweigbetreiben der Städte Rastatt und Gengenbach und in Hamburg mehr als 800 Arbeitskräfte. Gewerkschaftlich organisierte Kolleginnen und Kollegen sind unerwünscht. Die Wahl der Betriebsorte nach der Währungsreform erfolgte nach dem Grundsatz: niedrigste Ortsklasse, Arbeitskräfte aus ländlichen Orten, mit denen man machen kann, was man will.“
Heute arbeiten Schneider in spezialisierten Betrieben, Theatern oder in kleinen Manufakturen. Die häufiger anzutreffenden Änderungsschneidereien gehen auf den Beruf des Flickschneiders zurück, der auf Reparaturen und Änderungen getragener Kleidung spezialisiert war. Der Schneiderei nahestehende Berufe, wie etwa der mit Pelzen arbeitende Kürschner oder der Beruf des auf Stickereien spezialisierten Weißnähers, sind heute kaum noch anzutreffen oder gänzlich aus der Berufswelt verschwunden.
Aufgrund der positiven Resonanz wird die Sonderausstellung Textilgeschichte(n) im Schweizer Hof bis zum 6. Januar 2022 verlängert. Die Ausstellung soll den Besucherinnen und Besuchern die Geschichte der Textilien, aber auch die damit in Verbindung stehende Verantwortung in unserer Zeit aufzeigen, die durch die sogenannte Fast Fashion vor große ökologische Herausforderungen gestellt wird.
Öffnungszeiten: Mittwoch 15-19 Uhr; Samstag, Sonntag und Feiertage 11-17 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Text: Linda Obhof M.A., Stadtmuseum Bretten
Foto: Bundesarchiv, Robert
BU: Friedrich Walds Textilhölle? Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, 1957.
Veröffentlicht am 08.10.2021